QS-Verfahren
Arbeitsweise und Ergebnisse des IQTIG
Am Beispiel eines Indikators möchte ich darstellen, wie das IQTIG zu seinen Ergebnissen gekommen ist, und was ich daran kritisiere.
1.2. Qualitätsindikator „Patientenindividuelle Anwendung und Auswertung von standardisierten diagnostischen Instrumenten“
- Qualitätsziel
Im Rahmen der Diagnostik sollen in möglichst vielen Fällen in der Anfangsphase der Behandlung dem Behandlungsfall angemessene, psychodiagnostische Testverfahren und/oder ein standardisiertes/strukturiertes klinisches Interview durchgeführt und ausgewertet werden. - Rationale
Eine umfassende Diagnostik zu Beginn einer psychotherapeutischen Behandlung, die durch den Einsatz quantitativer Messverfahren ergänzt wird, ist Voraussetzung für eine Behandlungsplanung und das Formulieren von Behandlungszielen, und ist somit unmittelbar von Bedeutung für die Patientinnen und Patienten und folglich ein patientenrelevantes Ziel. - Referenzbereich: ≥ 90 %
(ebenso: 3.2 Qualitätsindikator „Patientenindividuelle Anwendung und Auswertung von standardisierten Instrumenten im Therapieverlauf“)
Begründung des IQTIG für die Auswahl als Indikator: Es gibt Hinweise auf Qualitätsdefizite in diesem Bereich aus folgenden drei Quellen:
1. Fokusgruppen
IQTIG: In den Fokusgruppen gab es Äußerungen, dass
- Testverfahren zur Diagnostik kein einheitlicher Standard in der psychotherapeutischen Versorgung sind
- Patientinnen mehrheitlich für eine Eingangsdiagnostik mit Messinstrumenten sind
Fokusgruppen
Das IQTIG führt mit Patienten und Psychotherapeuten sog. Fokusgruppen durch, um Hinweise auf qualitätsrelevante Faktoren zu bekommen: nach einem Leitfaden mit Fragen wird ein 1,5-stündiges Gruppengespräch geführt und das Protokoll mit einem qualitativem Verfahren (Mayring) ausgewertet.
Intransparent ist dabei u.a. die Rekrutierung der Teilnehmerinnen, oder dass die Protokolle und die Auswertung nicht zugänglich sind.
Fokusgruppen für Teil 1 des QS-Verfahrens
- Gruppen mit insgesamt 31 Patientinnen und 16 Psychotherapeutinnen
- Psychotherapie-Verfahren sind ungleich verteilt „entsprechend der Verteilung in der Versorgung“:
VT deutlich in der Mehrzahl (Pat.: 20 VT – 9 TP – 4 AP)
aber die Aussagen wurden nach dem Mehrheitsprinzip ausgewählt: „Relevant waren vor allem solche Themen in den Fokusgruppen mit Patientinnen und Patienten sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die von allen Befragten ähnlich stark beschrieben bzw. beobachtet wurden und damit keine Einzelmeinung darstellten.“ (Zwischenbericht S. 32)
Analytische Psychotherapie = Einzelmeinung?
Das IQTIG zitiert viele einzelne Aussagen zur Veranschaulichung, hier ein Beispiel zu Indikator 1.1:
IQTIG: Patientinnen in den Fokusgruppen kritisieren, die Psychotherapeutinnen würden unnötig nach Informationen zur Biografie („Kindheit“) fragen:
„aber deswegen bin ich gar nicht da“
„es ist vielleicht zur Erstdiagnose nicht verkehrt, aber wenn man selbstreflektierend ist, kann man das schon selbst bestimmen“ „ich bin der beste Arzt für mich selber“
Das IQTIG interpretiert diese Aussagen als Hinweis auf Qualitätsdefizite: Den Patientinnen werde zu wenig Autonomie zugesprochen, die Diagnostik sei nicht individuell genug.
Die Behauptung von Defiziten in der psychotherapeutischen Versorgung stützt sich hauptsächlich, manchmal sogar ausschließlich auf die Aussagen einer unbekannten Anzahl von Teilnehmern der Fokusgruppen. Subjektive Wahrnehmungen einiger Patienten, möglicherweise verzerrt durch Gedächtnislücken, krankheitsbedingt, oder durch Unzufriedenheit mit der Therapie, auch nicht differenziert nach eventuellem Bezug zu bestimmten Therapieverfahren, werden gewertet wie objektive Beurteilungen der Qualität der Psychotherapeuten. Sie haben den gleichen Stellenwert wie wissenschaftlich nachgewiesene Erkenntnisse über die Qualität der Gesamtversorgung. Zudem ist die Interpretation der Aussagen häufig höchst fragwürdig (s. oben) oder einfach falsch.
2. Sozialdaten
IQTIG: Die Auswertung von Abrechnungsdaten ergibt Hinweise auf Defizite bei der Diagnostik: Nur bei etwa 15 % der Behandlungen wurden Testverfahren abgerechnet, nur bei 7 % während der Probatorik.
Aber vielleicht ist das kein Qualitätsdefizit, sondern es gibt gute Gründe dafür? z.B. könnte ein Grund sein: Bei 85 bzw. 93 % der Behandlungen erscheinen Testverfahren den Psychotherapeutinnen (auch den Verhaltenstherapeutinnen!) nicht ausreichend nützlich, um im Praxisalltag diesen zusätzlichen Aufwand zu betreiben und den Patientinnen zuzumuten?
Dann wäre es gerade ein Zeichen für Qualität in 3 zentralen Qualitätsdimensionen: Patientenorientierung und Angemessenheit der Versorgung (Tests nur, wenn indiziert), und Wirtschaftlichkeit (keine unnötigen Kosten) !
3. Leitlinien und Studien
IQTIG: Leitlinien und Studien empfehlen die Anwendung quantitativer Messverfahren zur Diagnostik.
Es werden 15 Stellen aus Leitlinien und 3 Studien als Beleg aufgeführt (Beard und Delgadillo 2019, Schawohl und Odenwald 2018, an anderer Stelle noch: Lambert et al. 2018).
Allerdings beziehen die zitierten Leitlinien sich auf psychiatrische Krankheitsbilder oder störungsspezifische Behandlungen (Bipolare Störungen, Major Depression, Unipolare Depression, Alkoholbezogene Störungen), und sind nicht einfach auf die gesamte ambulante Psychotherapie übertragbar. Zudem liegen all diesen Empfehlungen keine Nachweise durch Studien zugrunde, sondern sie sind lediglich Expertenmeinungen (niedrigster Empfehlungsgrad).
Die zitierten Studien sagen nichts darüber, ob Behandlungsergebnisse durch Einsatz von Messinstrumenten besser werden, sondern untersuchen deren Einsatz für prognostische Aspekte (Early Responder haben bessere Prognose; Hochschulambulanz: riskanter Alkoholmissbrauch ist Risikofaktor für Therapieabbruch). Oder sie beziehen sich auf extrem kurze Behandlungen (Klinik, Studentenberatung usw.), auch das lässt sich nicht ohne weiteres auf die ambulante Psychotherapie und auf alle psychotherapeutischen Verfahren übertragen.
Es gibt aber tatsächlich eine große Studie aus der deutschen Versorgung, die untersucht hat, ob Therapieergebnisse durch den Einsatz von Messinstrumenten besser werden:
das Modellprojekt der Techniker-Krankenkasse „Qualitätsmonitoring in der ambulanten Psychotherapie“ (Wittmann et al. 2011)
Das IQTIG zitiert ein Nebenergebnis dieser Studie: Durch Testverfahren wird die Diagnostik zum Teil ausführlicher (aber die Autoren können nicht sagen, ob die Diagnostik dadurch besser wird).
Nicht zitiert wird das Hauptergebnis: die Behandlungen mit Testverfahren und systematischem Feedback hatten kein besseres Ergebnis, als die Behandlungen ohne Tests (stattdessen mit Gutachterverfahren).
Hier entsteht der Eindruck einer selektiven Auswahl von Studien und Studienaussagen, die zu den gewünschten Maßnahmen passen.
Als Alternative zu Tests fordert der Indikator Strukturierte Interviews. Für deren Nutzen gibt es überhaupt keine Nachweise.
Die entscheidende Frage für QS ist:
Gibt es Nachweise dafür, dass der Einsatz von Tests und strukturierten Interviews dazu beiträgt, Behandlungsergebnisse zu verbessern?
(s. z.B. Vortrag des früheren IQTIG-Leiters Prof. Pauletzki „Qualitätsindikatoren aus Sicht des IQTIG“: Grundanforderungen an Qualitätsindikatoren: Relevanz für patientenbezogenes Qutcome, Verbesserungsbedarf und -potential, …)
Das IQTIG geht auf die Frage der Ergebnisrelevanz garnicht ein, und der Verbesserungsbedarf wird nicht nachgewiesen, es wird nur so getan, als ob. Ganz ähnlich ist es bei den anderen Indikatoren.
30.3.2023
Beatrice Piechotta - Rosmarinstr. 12 L - 40235 Düsseldorf - eMail: kontakt@qs-psychotherapie.de